Wohl kaum eine einzelne Person polarisiert in Europa gerade derart, wie es der eben wiedergewählte türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan tut. Viele blicken mit Sorge auf die politischen Entwicklungen in der Türkei, auf die zunehmend autokratischen Züge des Präsidenten und den Umgang mit Regierungskritikern oder Regierungsgegnern, die man von staatlicher Seite nur allzu gern gleich einmal als “Terroristen” abstempelt. Eigentlich müsste uns aber etwas mindestens ebensoviele Sorgen bereiten: die wirtschaftliche Lage der Türkei. Die hat mehr Brandpotenzial für Europa, als man auf den ersten Blick denkt.
Die Türkei als “Liebling der Anleger”
Keine Frage, Länder mit hohen Wachstumsraten und einer boomenden wirtschaftlichen Entwicklung sind der Liebling aller Investoren – besonders der institutionellen. Wenn ein solches Land es dann auch noch schafft, zumindest den Anschein von ‘Kontinuität’ (wie auch immer die dann in der Praxis aussieht) zu vermitteln, dann bekommt man das Geld von Anlegern praktisch schon fast hinterhergeworfen.
Genau so ein Land war die Türkei – ist es eigentlich noch. Ein Wirtschaftswachstum, das sogar Indien und China zu seinen besten Zeiten in den Schatten stellt und einer Wirtschaft, die schon sehr nahe an dem liegt, was man in europäischen Industrienationen findet, machte die Türkei schnell zum “gelobten Schwellenland” für viele Anleger. Alles schien dort möglich – vor allem satte Profite.
Seit dem Ende des letzten Jahres zeichnet sich aber immer mehr die wirtschaftliche Krise in der Türkei ab, die als Land nur sehr unzureichend wirtschaftet – und sehr riskant noch dazu. So etwas bleibt natürlich nicht ohne Folgen.
Massives Leistungsbilanzdefizit und Wachstum von geborgtem Geld
Einer der wesentlichen Hinweise auf eine gar nicht so große Leistungsfähigkeit der türkischen Wirtschaft ist das Leistungsbilanzdefizit des Landes. Es beträgt immerhin 50 Milliarden US-Dollar – das ist eine enorme Summe. Immerhin hat sich damit das Leistungsbilanzdefizit allein seit 2016 rund verdoppelt – damals lag es noch bei rund 25 Milliarden US-Dollar, was zum damaligen Zeitpunkt rund 3 % des BIP ausmachte. Die Türkei importiert also zu einem guten Teil mehr, als sie tatsächlich exportiert.
Noch viel dramatischer ist aber der Absturz der türkischen Lira – als Währung hat sie allein seit dem Jahresanfang rund 17 % verloren, an manchen Tagen betrugen die Verluste über 20 % gegenüber dem US-Dollar. Problematisch ist das vor allem für die türkischen Schulden – die müssen nämlich in US-Dollar zurückgezahlt werden. Je weiter die türkische Währung fällt, desto unbezahlbarer werden die Schulden natürlich – zumal mit einem galoppierenden Leistungsbilanzdefizit.
Der Schluss liegt nahe: die Türkei steckt in der Krise. Und zwar sehr tief. Die Ratingagenturen haben mittlerweile schon reagiert und die türkischen Staatsanleihen mittlerweile auf Ramschniveau heruntergestuft.
Die Menge an Schulden, die die Türkei dabei anhäuft, ist mittlerweile allerdings beträchtlich geworden: Insgesamt liegt die Verschuldung bei über 200 Milliarden US-Dollar. Die Regierung tut dabei ein Übriges, um die Verschuldung noch zusätzlich anzuheizen – unter anderem sorgt ein Kredit-Garantie-System der Regierung dafür, dass Unternehmen immer wieder frisches Geld bekommen, prestigeträchtige Infrastrukturprojekte wahren den schönen Schein eines wirtschaftlich unglaublich erfolgreichen Schwellenlandes. Gleichzeitig versucht man im Land die Türken zu Stützkäufen zu bewegen.
Wenn die türkische Währung sich weiterhin derart im freien Fall befindet, wird es für die Unternehmen auch deutlich teurer an Geld zu kommen und – noch wichtiger – ihre Schulden zu tilgen. Fremdwährungsverluste und die zunehmend höheren Finanzierungskosten werden vielen Unternehmen gehörig die Luft abdrücken.
Die Situation steht auf der Kippe
Natürlich könnte man ganz einfach mit freundlichem Optimismus auf die türkische Energie setzen, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, und mit einem freundlichen “Die schaffen das!” die Situation vom Tisch wischen. Solche Aussagen haben allerdings in der Vergangenheit schon in anderen Bereichen zu unglaublich verfahrenen Situationen geführt, die heute keiner mehr lösen mag. Mit solchen Sätzen sollte man also immer ein wenig vorsichtig sein, umso mehr, wenn es um wirtschaftliche Dinge geht.
Die große Frage ist nämlich das “was, wenn nicht”. Dann wird das für Europa möglicherweise schmerzhafter, als wir auf den ersten Blick glauben.
Die türkische Notenbank hat es zudem bis heute nicht gewagt, der Situation entschlossen Einhalt zu gebieten – bei einer Inflation von rund 12 %, mehr als doppelt so hoch als eigentlich angepeilt, wäre es tunlichst Zeit, zu handeln. Das würde aber das hohe Wachstum der türkischen Wirtschaft bremsen – und darf damit nicht geschehen. Überdies hat der Präsident bereits vor der Wahl laut angekündigt, die Geldpolitik der Notenbank selbst mitentscheiden zu wollen. Sicherlich nicht mit Maßnahmen, die das von ihm geheiligte Wachstum bremsen werden.
Die größten Geldgeber der Türkei sitzen in Europa
Natürlich, wenn man das Muster-Schwellenland per se schon fast vor der Haustüre hat, investiert man natürlich sehr viel gutes Geld dort – in der Hoffnung auf sehr große Gewinne.
Zumindest die spanischen Banken taten das – mittlerweile haben sie Forderungen in der Höhe von über 80 Milliarden US-Dollar gegenüber türkischen Unternehmen. Auch bei französischen Banken stehen fast 35 Milliarden US-Dollar auf dem Spiel. Bei Deutschland, dem eigentlich wichtigsten Handelspartner der Türkei, sind es immerhin noch 12 Milliarden US-Dollar.
Wenn es zur Krise kommt, kann man auf die Türkei dabei kaum zählen – deren Devisenreserven reichen nicht im mindesten aus, um allein die kurzfristigen Verbindlichkeiten und das Leistungsbilanzdefizit zu decken. Allein die in den nächsten 12 Monate fälligen Verbindlichkeiten von rund 180 Milliarden US-Dollar überschreiten bei Weitem das, was die Türkei an Reserven aufzuweisen hat.
Viele türkische Unternehmen mussten – wegen der Unbezahlbarkeit ihrer Schulden bereits jetzt schon ihre Kredite restrukturieren. Wenn es in der Türkei nicht mehr geht, haben also vor allem europäische Banken, die sich um das Türkei-Geschäft quasi gerissen haben, das Nachsehen.
Genau das aber könnte gefährlich werden: Viele Bankhäuser in Südeuropa werden kaum in der Lage sein, die Verluste noch aufzufangen und selbst in die Krise geraten. Erste Anzeichen dafür, dass auch die geldgebenden Banken Probleme haben, gibt es bereits: die Aktie der spanischen Großbank BBVA hat bereits 14 % an Wert eingebüßt, das ist rund 5 mal mehr als der spanische Gesamtmarkt. Grund dafür könnte eine 50 %ige Beteiligung an der türkischen Garanti-Bank sein, dem drittgrößten Bankhaus in der Türkei. Das hat der BBVA bisher immerhin fast ein Fünftel ihres Gesamtgewinns beschert, der nun wegfallen könnte, wenn sich die Krise in der Türkei ausweitet.
Auch die italienische UniCredit, die an der türkischen Yapi-Bank eine nennenswerte Beteiligung hält, hat seit dem Absturz der türkischen Lira bei ihrer Aktie beinahe 20 % an Wert eingebüßt. Die Zeichen mehren sich also.
Banken können nicht mehr so einfach “gerettet” werden
Wenn sich die Krise weiter auswächst und die Lira weiter an Wert verliert und möglicherweise noch hohe Kreditausfälle aus der Türkei dazukommen, wird das unweigerlich einige schwächere Banken mit in den Abgrund reißen – und danach auch einige von den größeren in Europa.
Einem solchen Szenario haben wir allerdings nicht viel entgegenzusetzen – wenn es zu einer solchen “kleinen” aber europaweiten Bankenkrise kommt, wird sich die Frage stellen, welche Auswirkungen das haben wird, und wie wir damit umgehen.
Eine Bankenrettung wie in der letzten EU-Bankenkrise wird es in dieser Form wohl nicht mehr geben – das ist politisch ausgeschlossen. Andererseits kann man aber auch kaum die dann auftretenden Bankenverluste einfach auf die Kunden der Bankhäuser abwälzen. Vermutlich werden in einigen Ländern dann eben doch die Staaten wieder einspringen – die Bankenkrise ist dann aber immerhin bereits da, und sie wird auch in Europa (wieder) Auswirkungen haben.
Viel Grund also, sich um die Türkei Sorgen zu machen – nicht nur wegen dem politischen System im Land – vor allem wegen der Wirtschaft.
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