Behavioral Finance: der Overreaction Effekt

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Behavioral Finance: der Overreaction Effekt

In diesem Beitrag zu unserer Serie über Behavioral Finance wollen wir uns einmal einem Effekt widmen, der auf den ersten Blick selbsterklärend scheint: dem Overreaction Effekt. So einfach wie es scheint ist es dann aber doch nicht. Die Erkenntnisse der Behavioral Finance können uns hier wesentlich helfen, auftretende psychologische Effekte zu verstehen und in der Folge bessere und rationalere Entschediungen zu treffen. Die Behavioral Finance als Wissenschaftsdisziplin beschäftigt sich mit dem Verhalten von Menschen in Finanzsituationen, irrationalen Denkmustern und psychologischen Fallen und erklärt damit, warum Märkte oft so ineffizient sein können.

Der Markt ist menschlich

Die Effizienzmarkthypothese, die heute immer mehr in Frage gestellt wird, sagt knapp auf den Punkt gebracht folgendes aus: “Alle Preise auf dem Markt entstehen rational aus der Summe der verfügbaren Informationen aller Marktteilnehmer, der Markt funktioniert daher effizient und rational”. Was die Effizienzmarkthypothese weiter unterstellt ist, dass sich alle Marktteilnehmer grundsätzlich rational verhalten und die Motivation haben, ihr Vermögen zu mehren.

Das zweitere stellt niemand ernsthaft in Frage, das erstere lässt einen aber durchaus zweifeln. Wenn sich alle dauernd rational verhalten, solange sie die verfügbaren Informationen haben, die für eine realistische Preiseinschätzung nötig sind, dürften eigentlich Phänomene wie Blasenbildung und Kalendereffekte (regelmäßig deutlich höhere oder niedrigere Kurse zu bestimmten Daten) überhaupt nicht auftreten. Spekulationsblasen sind beispielsweise ja nicht nur gekennzeichnet durch unrealistisch hohe Bewertungen von bestimmten Aktien oder Werten, sondern auch dadurch, dass, wer immer daran teilnimmt, am Ende meist profunden Schaden an seinem Vermögen erleidet, wenn die Kurse dann in sich zusammenfallen. Als “effizient” kann man das wohl nur schwerlich bezeichnen – und als rational auch nicht.

Trotzdem wird die Effizienzmarkthypothese (EMH) von vielen immer noch nachdrücklich verteidigt, Anomalien und kurzfristige Abweichungen “könnten schon einmal vorkommen, spielten insgesamt aber keine wesentliche Rolle” werden die Befürworter nicht müde zu behaupten.

Wesentlich plausibler erscheint allerdings, dass der Markt anstatt “der verfügbaren Informationen” vor allem die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen und Irrtümer konsequent widerspiegelt – von Angst und Gier bis hin zu verzerrten Wahrnehmungen und Täuschungen, die aufgrund psychoogischer Effekte entstehen. Ein – sehr menschlicher – Effekt ist dabei ganz sicher nicht von der Hand zu weisen und klar ersichtlich: die Überreaktion.

Wir reagieren alle über – das ist ein evolutionäres Erbe

Kennen Sie das? Sie entgehen um Haaresbreite einem schweren Unfall (an dem Sie nicht schuld gewesen wären) und sind erst einmal geschockt. In der Folge fahren Sie deutlich langsamer als sonst, sind konzentriert und vorsichtig. Sie legen immer sofort ihren Sicherheitsgurt an und drehen vielleicht das Radio leiser, konzentrieren sich besonders auf die Straße. Das hält ein oder zwei Tage an, danach fahren Sie wieder wie zuvor.

Genau genommen ist dieses Verhalten überhaupt nicht rational. SIE wären an dem Unfall nicht schuld gewesen – ihr Verhalten und ihre Fahrweise sind also kein Grund für Unfälle. Sie können das Fehlverhalten anderer auch nicht dadurch verhindern, dass Sie sich SELBST BESONDERS RICHTIG verhalten. Wenn es etwas an Ihrem Fahrstil zu verbessern gäbe, müssten Sie das STÄNDIG ändern – da ansonsten kurz nach dem denkwürdigen Geschehen das Unfallrisiko ja wieder deutlich (und dauerhaft) erhöht wäre. Wenn es an Ihrem Fahrstil nichts zu verbessern gibt, brauchen Sie auch nichts zu verbessern. Es hätte keine Auswirkung auf das, was geschehen kann, so lange es am Fehlverhalten anderer liegt. Trotzdem reagieren wir – warum?

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Unser Gehirn ist evolutionär auf Überlebensstrategien geprägt. Eine dieser Überlegensstrategien ist, beim Anblick von Gefahr zu reagieren – und zwar möglichst sofort. Egal wie – einfach nur reagieren. Wer zu lange überlegt und nachdenkt, wird gefressen. (Das haben wir in einem anderen Beitrag der Serie ebenfalls schon einmal beleuchtet). Genau dieser Überlebensmechanismus steht uns aber – oft genug – im Weg. Wenn wir nicht sofort reagieren haben wir (evolutionär geprägt) ein SEHR unangenehmes Gefühl. Wir müssen etwas tun, sofort, irgendetwas verändern – egal wie sinnvoll es ist. Mit einer Veränderung, die wir vornehmen, fühlen wir uns dann wieder wohl, wir fühlen uns sicher, einfach weil wir reagiert haben. Das erzeugt in unserem Gehirn die Illusion, dass wir wieder die Kontrolle haben. Die Gefahr wird uns nichts mehr anhaben können.

Um dieses Gefühl von “wieder die Kontrolle haben” zu erlangen und uns wieder sicher zu fühlen, müssen wir also einfach nur reagieren. Und je eher wir reagieren, handeln, desto schneller fühlen wir uns wieder sicher. Tatsache ist nur: wir haben sehr oft keine Kontrolle (etwa über das lebensgefährliche Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer oder generell anderer Menschen). Unsere Reaktion tut nichts dazu.

Diese Reaktionsfreudigkeit bringt uns oft mehr in Gefahr und verursacht oft mehr Schaden, als uns zu nützen. Vor allem jetzt, wo wir von den evolutionären Gefahren völlig abgeschottet sind. Wir begegnen auf dem Weg keinem Säbelzahntiger mehr – und die Gefahren, die uns heute drohen, sind vor allem durch Ruhe bewahren, sorgsames Überlegen und Analysieren und durch gezieltes, maßvolles Handeln zu enschärfen. Das gilt umso mehr für Gefahren des Finanzmarkts, die unserem Vermögen drohen können. Damit tun wir uns aber alle schwer.

Nachrichten und Informationen lösen Reaktionen aus

Am Anfang war das Wort. Danach kommt schon gleich die Überreaktion. Wir erfahren Fakten aus den Medien, auf eine Weise die uns gleich aufschreckt (damit verdienen Medien ihr Geld) und bekommen gleich auch Analysen und Szenarien mitgeliefert, die uns in schiere Panik versetzen: Wir werden Geld verlieren, und zwar eine ganze Menge. Die Wirtschaft ist am Ende, die Märkte rutschen ab. Reagiert, Leute, reagiert!

Immerhin funktioniert das jedes Mal. Reaktionen beginnen zuerst langsam und bei einzelnen, und laufen dann immer schneller ab. Anleger behalten die “Angstbarometer” und ihre Werte im Auge, sehen dass auch andere beginnen zu reagieren und lassen sich von der “Herde” mitreißen. Immer mehr Anleger werfen in schierer, blinder Panik ihre Papiere auf den Markt, der jetzt tatsächlich ins Wackeln gerät, bis dann das entsteht, was Finanzfachleute eine “Stampede” nennen: Eine Herde Bullen die in blinder Panik unaufhaltsam vorwärts stürzt und alles in ihrem Weg niedertrampelt und dann erst nach einer ganzen Weile und profunder Verwüstung zum Stehen kommt, sich erstaunt umsieht und sich fragt, was zum Teufel denn eigentlich los war. Die Antwort: Schulterzucken. Niemand weiß es so wirklich.

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Am Anfang steht die Überreaktion. Aber worauf? MUSS man den einfach reagieren? Ein gutes Beispiel für eine solche Geschichte ist auch der jüngste Börsencrash in den USA, der glücklicherweise noch einigermaßen glimpflich abging. Die Ursache? Eigentlich keine.

Die wirtschaftlichen Fundamentaldaten waren gut, sogar besser als erwartet. Die Wirtschaft lief stabil, die zu erwartenden Gewinne der Unternehmen waren satt. Alles perfekt. Bis dann jemand die seltsame Idee hatte, dass etwas gar nicht so gut sein KANN, und vielleicht die Regierung die Leitzinsen erhöhen KÖNNTE. Dann würden die Kapitalbeschaffungskosten für Unternehmen MÖGLICHERWEISE höher, der Konsum KÖNNTE zurückgehen und damit VIELLEICHT die Unternehmensgewinne. Dann würde es wieder bergab gehen. Und fertig war ein schreckliches Schreckensszenario. Angst vor Gespenstern? Ja, offensichtlich alle Anleger. Erzähle ihnen eine Schauergeschichte, und sie verkriechen sich sofort unter dem Bett und verbarrikadieren die Tür. “Bringt euer Geld in Sicherheit, Leute, sofort!” Anleger verhalten sich rational? Pustekuchen.

Die Frage ist: muss man reagieren? Viele haben möglicherweise vorausgesehen, dass das hier eine Stampede wird, und vorsorglich ihre Papiere auf den Markt geworfen, um ihre Verluste zu begrenzen. Vielleicht war das schlau. Wer klug ist rechnet immerhin mit einer möglichen Überreaktion der anderen. Aber Tatsache ist eben, dass viele tatsächlich einfach nur überreagiert haben. Und zwar auf bloße Gespenstermärchen hin.

Der Markt erholt sich aber wieder, das von der Bullenherde vernichtete Gras beginnt wieder zu sprießen, und die Landschaft blüht wieder – bis zum nächsten Mal. Hätte man es denn nicht auch einfach aussitzen können – mit einer etwas langfristigeren Perspektive? Wie groß wäre der eigene Schaden dann gewesen?

Welche Arten von Nachrichten und Informationen lösen Reaktionen aus?

Wir sollten uns einmal genauer ansehen, auf welche Art von Nachrichten und Informationen wir reagieren. Da sind zunächst allein bloße Fakten: Zahlen, Werte, Daten. Von den Kursveränderungen bis hin zu Quartalszahlen. Das sind eigentlich harte, unbestechliche Fakten – aber wie wir im Beitrag über den Framing-Effekt schon gesehen haben, ist es vor allem die INTERPRETATION von neutralen Werten, die uns in Reaktionsstimmung versetzt, oft völlig zu unrecht.

Auf der anderen Seite sind die Analysen und tiefschürfenden Erkenntnisse von “Experten”. Die so hilfreich gar nicht sind: eine Studie belegt klar, dass Experten und Fachleute zur profunden Selbstüberschätzung neigen und mit ihren Prognosen und Ergebnissen in mehr als 50 % der Fälle falsch liegen. Das ist noch schlechter, als wenn sie einfach gewürfelt hätten – dann wäre die Trefferquote immerhin GENAU 50 %.

Wegen der eigenen maßlosen Selbstüberschätzung und der in vielen Studien bewiesenen Überschätzung ihrer Fähigkeiten ziehen Experten auch so gut wie niemals selbstkritisch Bilanz über falsche und richtige Einschätzungen. Sie glauben an sich, und der Overconfidence Bias Effekt und der Hindsight Bias Effekt sorgen dafür, dass man auch die passenden Ausreden (für sich selbst und die Umwelt) zur Hand hat: man neigt dazu, Erfolge sich selbst, Fehler aber der Umwelt oder unglücklichen Umständen zuzuschreiben. Und am Ende kommt man immer damit an, dass man dieses und jenes “ja schon immer gewusst” hätte, oder “immer schon gesagt hätte”. Das stimmt oft nicht einmal – Menschen, die zur Selbstüberschätzung neigen (das ist eine sehr häufig vorkommende, der Aufrechterhaltung des eigenen Selbstwerts dienende Wahrnehmungsverzerrung) glauben das ganz einfach. Und sie glauben, dass sie die “Kontrolle” oder zumindest den Durchblick haben.

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Rund 80 % der Menschen halten sich für klüger und besser als der Durchschnitt und behauptet von sich, bessere Entscheidungen als andere zu treffen. Wer ein bisschen besser rechnen kann, als der Durchschnitt erkennt, dass das mathematisch gar nicht geht. Einige (viele) davon haben also offensichtlich unrecht damit. Was aber keinen stört, trotzdem an die eigene Überlegenheit zu glauben.

Expertenmeinungen, Analysen und Prognosen sollten uns also nicht unbedingt aufschrecken – das hat deutlich weniger Substanz als es auf den ersten Blick scheint. Ein wenig innere Ruhe und Gelassenheit und ein Quäntchen gesunder Menschenverstand kann dann oft schon ausreichen, um einen trotz der Chaos-Prognosen ruhig und gelassen auf seinem Sessel sitzenbleiben zu lassen.

Ein großer Teil gerade der Kleinanleger tut das übrigens, Studien zufolge. Und sie fahren damit im Durchschnitt signifikant bessere Ergebnisse ein als viele professionelle Fondsmanager. Blinder Aktionismus macht alles nur noch schlimmer und lässt einen oft genug das Ziel völlig aus den Augen verlieren. Der hektische Reaktions-Hampelmann kommt am Ende nirgendwo hin – höchstens in chronische Erschöpfungszustände und völlig verfahrene Situationen. Wird auch Zeit, dass Politiker das endlich einmal erkennen.

Was wir daraus lernen können

Reaktion ist prinzipiell gut – aber nur dann, wenn sie auf SUBSTANZIELLEN INFORMATIONEN BERUHT, WOHLÜBERLEGT und ANGEMESSEN ist. Alles andere ist oft noch schlimmer als überhaupt nicht zu reagieren. Das kann in vielen Fällen auch eine profunde Strategie sein – einfach Schwankungen und um sich greifende Panik in Ruhe auszusitzen und in Ruhe eine langfristige Perspektive einzunehmen. Zu warten, bis die Bullenherde ihren Amoklauf wieder beendet hat – dann kann man wieder vernünftige Antworten und Handlungen erwarten. Wer die Welt besser und Anlageverhalten vernünftiger machen will kann immerhin schon einmal gut bei sich selbst anfangen.

Wir alle müssen mehr nachdenken, mehr ruhig beobachten und ein wenig Gelassenheit entwickeln. Wir müssen lernen, Dinge zu erkennen, in Ruhe abzuwägen und wirklich rationell zu urteilen. Dann werden wir auch bessere Entscheidungen treffen. Je mehr wir verstehen, unsere Entscheidungen kritisch hinterfragen und Fehler bei uns selbst suchen, desto klüger werden wir, und desto öfter kommen wir uns auch selbst auf die Schliche. Um das noch zu vertiefen, empfehlen wir Ihnen auch die anderen Beiträge dieser Serie gründlich zu lesen. Sie werden in vielen Fällen erkennen, wo sie oft selbst in die Falle gehen.

Überreaktion ist das größte Übel, das unsere Märkte plagt – und das, was langfristig den meisten Menschen am meisten Verluste zufügt. Ganze Märkte nehmen enormen Schaden dadurch. Überreaktion ist das, woran wir in Zukunft alle am meisten arbeiten müssen.

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