Nun – im ersten Moment sah das tatsächlich so aus. Ein einzelner Urteilsspruch des EuGH stellt gerade einiges auf den Kopf. Er öffnet vielen, sehr vielen den Weg aus zu teuren Krediten und Leasing-Verträgen, die nicht mehr gewünscht sind. Und zwar ohne finanziell irgendwie draufzulegen. Mittlerweile sieht man allerdings ein wenig klarer. Und man bemerkt, dass es in vielen Fällen dann doch nicht so einfach ist. Für viele, die gerade eher versuchen, ihr Geld ein wenig mehr zusammenzuhalten angesichts der bevorstehenden unsicheren Zeiten, mag dieses Geschenk vielleicht tatsächlich genau zur richtigen Zeit kommen.
Ein einzelnes Urteil – und plötzlich sind tausende Kreditverträge unwirksam
Das Urteil mit der nicht allzu spektakulär wirkenden Bezeichnung „EuGH, Az. C-66/19“ birgt tatsächlich eine beträchtliche Menge Sprengstoff in seinem Inneren. Einen Sprengstoff nämlich, der es vermag, Millionen deutscher Kreditverträge quasi zu pulverisieren. In diesem Fall zugunsten der Kunden. Um die Größenordnung der Sache zu verdeutlichen: Betroffen ist insgesamt ein Kreditvolumen von 1,5 Billionen Euro. Jedenfalls grob geschätzt. Am Ende könnte es sogar noch viel mehr sein. So recht kann das noch gar keiner überblicken.
Gegenstand des Urteils war eine Betrachtung des sogenannten Kaskadenverweises, einer Klausel, die in Kreditverträgen und in KFZ-Leasingverträgen sehr häufig auftaucht. Beim Kaskadenverweis handelt es sich nicht wirklich um eine komplizierte Sache. Es geht einfach darum, dass in der Formulierung für den Widerruf zunächst auf ein Gesetz (§ 492 Abs.2 BGB) verwiesen wird, das aber seinerseits in seinem Wortlaut wiederum auf ein anderes Gesetz (Art. 247 §§ 6 bis 13 EGBGB) verweist. Damit ist eine „Verweiskaskade“ entstanden. Eine solche Verweiskaskade von einem Gesetz auf das nächste ist nach Ansicht des EuGH keine klare und prägnante Information, anhand derer der Verbraucher schnell und einfach selbst feststellen kann, wann seine Widerrufsfrist denn nun zu laufen beginnt.
Damit muss man den Richtern irgendwie Recht geben. Gleich zwei Gesetzbücher auftreiben und simultan in beiden blättern zu müssen, um aus dem Destillat zweier Gesetze herauszufinden, welches Datum denn nun den Beginn der Widerrufsfrist markiert, ist tatsächlich ein wenig viel verlangt für den durchschnittlichen Kreditnehmer.
Die Konsequenz für die Luxemburger Richter war damit klar. Sie stellten in ihrem Urteil fest, dass auf diese Weise – wegen der fehlenden klaren und prägnanten Information – die Widerrufsfrist nun einfach überhaupt nicht zu laufen beginnt. Das bedeutet: Man kann seinen Kredit (oder sein KFZ-Leasing) bis in alle Ewigkeit einfach widerrufen – zu jedem beliebigen Zeitpunkt. Das ist natürlich echter Sprengstoff.
Welche Kredite sind überhaupt davon betroffen?
Die unzulässige Klausel findet sich bei Baufinanzierungen, die zwischen Juni 2010 und März 2016 abgeschlossen wurden. Bei Autokrediten und Auto-Leasing-Verträgen gibt es keine Zeitbeschränkung – dort ist die als unzulässig erkannte Klausel in praktisch allen Verträgen seit Juni 2010 enthalten. Damit betrifft das also eine riesige Menge an Baufinanzierungen und tatsächlich eine ganze Menge an KFZ-Finanzierungen als Kredit und als Leasing. Bei denen kann man vom Widerrufsrecht sogar dann noch Gebrauch machen, wenn sie längst abbezahlt sind oder man das Leasing-Fahrzeug schon gar nicht mehr hat.
Was für Kunden nun möglich wird (jedenfalls theoretisch)
Wenn man sein Kfz-Leasing jederzeit widerrufen kann, bedeutet das: Man kann dem Händler ganz einfach sein Fahrzeug hinstellen – und man ist raus. Ohne irgendeinen finanziellen Schaden. Im Gegenteil: In diesem Fall würde man sogar sein Geld zurückbekommen.
Bei teuren Baufinanzierungen könnte man einfach seinen Darlehensantrag widerrufen. Und auf einen Kredit zum Niedrigzins umschulden – oder den Kredit einfach tilgen. Die für solche Fälle vorgesehene Vorfälligkeitsentschädigung könnte die Bank in diesem Fall nicht einfordern. Denn es handelt sich ja um einen Rücktritt vom Vertrag selbst, nicht um eine vorzeitige Rückzahlung. Als Kunde wäre man bei einer solchen Finanzierung (ein sehr großer Teil der betroffenen Kredite sind Baufinanzierungen) ohne finanzielle Nachteile draußen. Obwohl die Bank das so nie vorgesehen hat. Den Zeitpunkt kann man auch hier komplett selbst wählen. Da die Widerrufsfrist nie zu laufen beginnt, kann sie auch nie enden – und ist damit für immer aktiv.
Das würde Kunden durchaus eine ganze Reihe von Möglichkeiten eröffnen. Nach dem EuGH-Entscheid müssten sich die Banken fügen.
Der Haken an der ganzen Sache
Nun verhält es sich aber leider so, dass die EuGH hier etwas entschieden hat, was eigentlich deutschen Rechtsentscheidungen und sogar deutschen Rechtsvorgaben schlicht zuwiderläuft. Im Grunde ist das theoretisch recht leicht aufzulösen. EU-Recht steht ganz klar über nationalem Recht, also gilt die Entscheidung des EuGH.
Was das Ganze allerdings wirklich schwierig macht ist, dass der Kaskadenverweis in einer Mustervorlage enthalten ist, die die Banken ausgerechnet vom Gesetzgeber erhalten haben. Zu allem Überfluss hat auch der Bundesgerichtshof schon 2016 entschieden, dass der Kaskadenverweis in dem Musterdokument rechtlich zulässig sei.
Die Banken, die sich lediglich an das gehalten haben, was der Gesetzgeber ihnen vorgegeben hat, sind nun natürlich die Leidtragenden. Obwohl sie überhaupt nichts falsch gemacht haben, sondern im Gegenteil sogar genau das getan haben, was der Gesetzgeber von ihnen erwartet hat. Auch deutsche Gerichte haben mit diesem schier unlösbaren Widerspruch hart zu kämpfen. Das OLG Rostock hat seine Ansicht geändert und folgt nun der Entscheidung des EuGH. Das OLG Dresden überlegt noch und rät Kunden und Banken eher zu einem Vergleich. Und das OLG Düsseldorf hat sich klar auf die Seite der Banken gestellt – mit der Begründung, dass sie ja eben ein gesetzlich vorgegebenes Muster verwendet haben.
Das scheint irgendwie einleuchtend. Sieht man allerdings genau hin, stellt sich hier noch eine weitere Frage. Macht es einen Unterschied, ob Banken die Mustervorlage tatsächlich 1:1 übernommen haben – oder nur in Teilen? Grundsätzlich könnte man nämlich argumentieren, dass Banken, die die Vorlage exakt im Wortlaut übernommen haben, tatsächlich nur wenig vorzuwerfen sein könnte.
Bei Banken, die die Vorlage im Wortlaut aber nach eigenen Bedürfnissen abgeändert haben, könnte man dagegen sagen, es wäre nicht mehr die Vorlage des Gesetzgebers, die hier einfach übernommen wurde. Sondern die gewählte Formulierung ist in diesem Fall tatsächlich die Formulierung der jeweiligen Bank selbst. Damit wäre sie selbst in der Verantwortung für eine nicht zulässige Klausel – und müsste demnach auch die Konsequenzen dafür tragen. Ob deutsche Gerichte dann auch dieser oder einer ähnlichen Argumentationslogik folgen, bleibt aber abzuwarten. Das werden die nächsten Monate zeigen.
Der Anspruch der Kunden bleibt dabei aber immer bestehen – da EU-Recht und die Entscheidungen des EuGH immer über nationalem (deutschem) Recht stehen.
Irgendwie klingt das ganz Urteil auf den ersten Blick durchaus ein bisschen spitzfindig und pingelig. Insbesondere, wenn man Anlass und Folgen betrachtet. Ein bisschen wie im amerikanischen Recht, wo Leute am Ende 480.000 Dollar Schadensersatz bekommen, wenn sie sich versehentlich zu heißen McDonald’s Kaffee über die Jogginghose kippen. Auf der anderen Seite, so ist Juristerei eben. Die wohl einzig buchstäblich exakte Wissenschaft, die wir haben.
Für den einen oder anderen Kreditnehmer oder Leasingnehmer mag das Urteil aber möglicherweise tatsächlich ein Ausweg aus einem zu teuren Kredit oder einer finanziell belastend gewordenen KFZ-Finanzierung in wirtschaftlich problematischen Zeiten sein. Dann wäre es eine gute Sache.
Anzeige