Die anhaltende Flüchtlingskrise prägt nicht nur die Tagespolitik in Deutschland, sie hinterlässt ihre Spuren mittlerweile auch in der Wirtschaft. Die aktuelle Entwicklung hin zu Grenzschließungen und verstärkten Grenzkontrollen mag konservativen Teilen des politischen Spektrums entgegenkommen – der Wirtschaft tut die Bundesregierung mit solchen Schritten allerdings keinen Gefallen. Schließlich sind zahlreiche deutsche Unternehmen zwingend auf Just-in-time-Lieferungen angewiesen. Wird die Lieferkette dauerhaft gestört, drohen Lieferengpässe und schlimmstenfalls der Zusammenbruch ganzer Geschäftsmodelle – mit erheblichen Folgen auch für Anleger, die in diese Unternehmen investiert haben.
Mit der anhaltenden Diskussion um eine Flüchtlingsobergrenze infolge immer neuer Flüchtlinge in großer Zahl sind in den vergangenen Tagen auch die Grenzkontrollen im Süden Deutschlands, insbesondere in der Grenzregion zwischen Deutschland und Österreich, verschärft worden. Mit praktisch sofort sichtbaren Folgen: In kürzester Zeit staute sich der Verkehr kilometerweit. Sehr zum Unmut von Wintersportlern, aber auch von Speditionen, deren Lastwagen ebenfalls nicht vorwärts kamen. Gleichzeitig wurde bekannt, dass die EU-Mitgliedsstaaten die Europäische Kommission aufgefordert haben, die Grundlagen für eine europaweite Ausweitung der Grenzkontrollen für bis zu zwei Jahre zu prüfen.
Die Idee von offenen Grenzen und freiem Warenverkehr ist damit praktisch tot. Mit erheblichen Folgen für die deutsche Wirtschaft. Wie kaum ein anderes Land ist Deutschland abhängig vom grenzenlosen Europa, in dem Waren schnell und ohne Kontrollen transportiert werden können. Zahlreiche Unternehmen haben ihr Geschäftsmodell auf dieser Grundlage optimiert. Statt teurer Vorratshaltung und Fertigung im Hochlohnland Deutschland setzen zahlreiche mittelständische und große Unternehmen über fast alle Branchen auf die Fertigung von Teilen und Vorprodukten im EU-Ausland, die genau dann angeliefert werden, wenn sie in der Endfertigung in Deutschland benötigt werden. Betroffen sind davon die Automobilindustrie und Maschinenbauer ebenso wie die chemische Industrie oder Logistikbranche.
Eine Ausweitung der Grenzkontrollen, gar über zwei Jahre, wäre Gift selbst für große Unternehmen mit guter Kapitalisierung. Ausbleibende oder verspätete Lieferungen, das hieße stillstehende Fertigungsbänder und Zeitverluste, teure Neuplanungen und womöglich eine Umstrukturierung des Geschäftsmodells, was über einen längeren Zeitraum mit höheren Kosten und geringeren Gewinnen einher gehen würde. Dass diese Überlegungen keineswegs schlichte Horrorszenarien sind, bestätigen führende Unternehmen ebenso wie die deutschen Wirtschaftsverbände. So geht der Großspediteur Dachser von Zusatzkosten in der Größenordnung von mehreren Hundert Millionen Euro aus, verursacht durch die Grenzkontrollen. Die deutschen Wirtschaftsverbände beziffern allein die direkten Kosten der Kontrollen mit drei bis zehn Milliarden Euro.
Ob die aktuelle Politik des Abschottens wie von ersten Branchenexperten befürchtet, langfristig zu alten Verhältnissen in Europa führen wird, zu Protektionismus und gegenseitigem Misstrauen, ist Spekulation. Aber auch ohne einen Blick in die Zukunft sollten Anleger die aktuelle Entwicklung in Sachen Flüchtlingskrise und Grenzkontrollen im Auge behalten. Schon heute wächst die Nervosität der Unternehmen angesichts der zu erwartenden Aussichten. Und die Nervosität der Anleger: Längere Lieferzeiten, Produktionsverschiebungen und höhere Kosten schlagen sich direkt in den Unternehmenszahlen nieder. Und haben damit auch einen direkten Einfluss auf die Rendite von Aktien, Fonds & Co. Übrigens nicht nur im Hinblick auf Kurswerte – auch Dividenden sind davon betroffen und könnten in den nächsten Jahren gestrichen werden. Selbst eine hohe Streuung der Werte könnte im schlimmsten Fall keinen ausreichenden Schutz vor Wertverlusten bieten, da sich das Problem durch fast alle Branchen in Deutschland zieht. Konservativen Anlegern bleibt nur darauf zu hoffen, dass die Grenzkontrollen bald der Vergangenheit angehören – und im Zweifelsfall das Umschichten in außereuropäische Werte und Sachwerte.
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