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Eigentlich gerade ein (unausgesprochenes) Thema: die Eigenkapitalquote

So manch einen mag es erschreckt haben, wie schnell selbst “große” Unternehmen in die Schieflage geraten, wenn sie einmal nur ein paar Wochen zusperren sollen oder übers Jahr hinweg etwas weniger Umsatz machen. Selbst bekannte Ketten wie Esprit oder Tom Tailor sind durch ein einzelnes Jahr mit einem mehrwöchigem Lockdown und etwas verringerten Umsätzen derart in Schieflage geraten, dass sie jetzt praktisch pleite sind. Dem einen oder anderen drängt sich hier durchaus der Gedanke auf, dass man doch als Unternehmen mit großen Umsätzen ein wenig Rücklagen schaffen müsste – oder geschaffen haben sollte. Die Überlegung ist durchaus berechtigt. Vielleicht liegt es allerdings auch daran, dass noch nicht einmal die Wirtschaftswissenschaft irgendwelche Anhaltspunkte für eine “angemessene Eigenkapitalquote” von Unternehmen postuliert – oder das überhaupt auch nur will.

Wachstum braucht Investitionen

Das immerhin gilt als eine der Grundsäulen der kapitalistischen Wirtschaftswelt: Unternehmen müssen konstant wachsen, um zu überleben. Ansonsten gehen sie irgendwann einmal den Weg der Dinosaurier. Wachstum kann dabei auf unterschiedliche Weisen erfolgen. Durch Steigern der Umsätze mit den bereits vorhandenen Produkten, durch Erschließen neuer Käuferschichten, aber auch durch das Herstellen neuer Produkte (oder zumindest von “Innovationen” in der bewährten Produktpalette). Oder durch das Erschließen völlig neuer Märkte mit neuen Kunden und Käuferschichten und ganz neuen Produkten. Möglichkeiten genug also, sich als Unternehmen weiterzuentwickeln.

Allen diesen Wachstumsmöglichkeiten gemeinsam ist, dass sie Kapital benötigen und in gewisser Weise jedes Mal ein “Investment” in eine möglicherweise erfolgversprechende Zukunft darstellen. Die eigenen Erlöse reichen sehr häufig nicht aus, eine vielversprechende Wachstumsmöglichkeit zu finanzieren. In diesem Fall muss dann Fremdkapital herangezogen werden.

Die Grundlage von kapitalistischem Wirtschaften lautet also genau genommen: “Setze Geld auf eine vielversprechende Chance und erlöse am Ende mehr als du eingesetzt hast.”. Es ist das gleiche Prinzip, das im Wesentlichen auch hinter unser gesamten Geldwirtschaft steckt. Es beginnt am Anfang immer mit Schulden, mit einem Minus, das man einsetzt, um am Ende mehr herauszubekommen. Ohne Investition (auf Schulden) kommt überhaupt nichts in Bewegung.

Man mag zu dieser Konstruktionsweise eines Wirtschaftssystems stehen wie man will – sie ist nun einmal Realität. Hohes Eigenkapital und aufgehäufte Rücklagen passen nur irgendwie nicht so recht zu diesem Ansatz. Oder scheinen zumindest nicht wirklich gut dazu zu passen. Geld das ruht, erzeugt ja keine Gewinne und bremst damit den Fortschritt und das Wachstum des Unternehmens, wenn es nicht in Wachstumschancen investiert wird.

Wirtschaftswissenschaft und Eigenkapitalquote

Die Ermittlung der Eigenkapitalquote ist klar geregelt – sowohl wirtschaftlich als auch von den bilanzrechtlichen Vorgaben. Man kann für jedes bilanzpflichtige Unternehmen also problemlos überall in Europa und auf der Welt eine Eigenkapitalquote auf einheitliche Weise ermitteln und vergleichen. Nicht immer ist Fremdkapital und Eigenkapital dabei ganz leicht von einander zu unterscheiden, Pensionsrückstellungen werden beispielsweise immer als Fremdkapital gewertet, ebenso stille Gesellschaften und Genussrechte – während Gesellschafterdarlehen wiederum als Eigenkapital angesehen werden. Sogenanntes Mezzanine-Kapital stellt eine Mischform aus Eigen- und Fremdkapital dar und ist damit noch schwieriger wirtschaftswissenschaftlich und bilanztechnisch zu bewerten.

Neben diesen – in der Praxis bereits hoch komplizierten – Dingen fehlt eines komplett: eine wirtschaftswissenschaftliche Definition über ein “angemessenes Eigenkapital” und damit auch eine Obergrenze für einen duldbaren und sinnvollen Verschuldungsgrad eines Unternehmens. Der Begriff “angemessenes Eigenkapital” wird als unbestimmter Rechtsbegriff eingeordnet (ein Rechtsbegriff mit einem vagen, mehrdeutigen oder nicht abschließend aufgezählten Inhalt, bei dem man die objektive Bedeutung nicht direkt und unmittelbar erfassen kann). Das ist ein unbefriedigender Tatbestand. Welche Finanzausstattung ein Unternehmen haben sollte – sinnvollerweise – und welcher Prozentsatz der Bilanzsumme als Eigenkapital ausgewiesen werden sollte, ist in jedem Einzelfall interpretierbar – und wird von unterschiedlichen Seiten wohl sehr unterschiedlich gesehen.

Brauchen wir mehr Regeln?

Niemand – und schon gar kein Unternehmen – lässt sich sicherlich gerne vorschreiben, wie viel Rücklagen es vorzuhalten hat und in welchen Zeiträumen auch ohne Einnahmen die eigenen Kosten abgedeckt werden müssen. Die Liquidität von Unternehmen ist naturbedingt zudem immer schwankend und manchmal sind Investitionen, hohe Fremdkapitalquoten oder unternehmerische Wagnisse einfach notwendig, um über eine schwierige Situation “hinauszuwachsen” – oder eben daran zu scheitern.

Während man vom einfachen Bürger, der als Konsument ja die Wirtschaft am Laufen erhält, immer verlangt, vernünftig mit seinem Geld zu wirtschaften und immer so viel zurückgelegt zu haben, dass er fröhlich weiterkonsumieren kann und nicht in eine prekäre Lage kommt, gilt das für Unternehmen – bedingt durch unser Wirtschaftssystem – immer nur eingeschränkt. Und dann können eben in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, wenn Umsätze stagnieren oder ausbleiben, bei Unternehmen, bei denen ohnehin schon alles “auf Kante genäht” und nur von Hoffnung noch getragen ist, dann irgendwann die Rechnungen nicht mehr aufgehen. Was an und für sich nicht tragisch wäre, wenn wir das einfach als ein Wachsen und Absterben wie in der Natur bereit wären hinzunehmen – sind wir aber irgendwie nicht. Wir versuchen dann immer alles zu “retten”, was oft schon lange nicht mehr zu retten oder einfach zu riskant kalkuliert ist. Darin besteht vielleicht der größte Fehler.

Und möglicherweise in der Tatsache, dass wir in manchen Fällen die Grundsätze unseres Wirtschaftssystems allzu buchstabengetreu auslegen und unternehmerisches Wagnis immer über solide Rücklagenpolitik und vernünftiges, konservatives Wirtschaften stellen. In der Angst, dass, wer nicht dauernd ein neues Wagnis eingeht, sowieso dem Untergang geweiht ist. Manchmal überlegen aber auch die Vorsichtigen und die Zurückhaltenden länger – auch in der Natur.

Dieser Tatsache sollten wir vielleicht in Zukunft wieder etwas mehr Beachtung schenken.

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