Sieht man sich die Nachrichten an einzelnen Tagen an, kann einen das schon ziemlich verwirren. Während die Schlagzeilen der einen vom “noch schlimmeren Absturz als befürchtet” und von einem “noch härteren Schlag für die Konjunktur als erwartet” schwadronieren, konstatieren andere genau zeitgleich, dass deutsche Unternehmen wohl “deutlich besser durch die Krise gekommen sind als erwartet” und die deutsche Wirtschaft “wohl sehr glimpflich durch die Krise komme”. Dazwischen häufen sich die Meldungen über die eine oder andere Branche, die hier “geopfert würde”. Dass gewisse Medien gerne etwas übertreiben, um ihre Leser auch möglichst aufgestachelt zum Lesen zu bewegen, ist bekannt. Hinter den eigentlich diametral entgegenstehenden Aussagen stehen aber auch ebenso diametral entgegengesetzt verlaufende Prognosen von durchaus recht namhaften Experten. Die sonst so gern bemühten Kristallkugeln scheinen also gerade vollends zu versagen. Prognosen werden zur reinen Glaubensfrage. Nicht gerade hilfreich für den Anleger, der gerne informiert sein möchte.
Die Probleme einer verlässlichen Prognose
Von “kurz vor dem totalen Kollaps” bis zu “lief ja alles noch ziemlich glimpflich ab” ist also gerade alles drin in den Prognosen. Hilfreich ist das natürlich nicht – aber auch nur allzu verständlich. Konjunkturforscher bemühen sich immer, was geschieht, möglichst irgendwie einzuordnen – und das ist schon beim Auf und Ab der Infektionszahlen in Deutschland und Europa äußerst schwierig. Mit einem so raschen Anstieg der Infektionen in praktisch allen europäischen Ländern pünktlich zum Herbstbeginn – und damit mit drohenden Lockdowns allerorts – hatten wohl viele einfach nicht gerechnet.
Auch die Auswirkungen von verschärften Maßnahmen – Reisebeschränkungen und Beherbergungsverbot, Sperrstunden und massives Zurückfahren von Massenveranstaltungen – lassen sich so einfach nicht beurteilen. Kaum stiegen die Infektionszahlen im Herbst auf neue Höchstwerte, fing auch sofort wieder das Hamstern von Toilettenpapier an (was für ein gestörtes Verhältnis haben Deutsche eigentlich zu ihrem Stuhlgang?) – man zeige einen Experten, der das vorhergesehen hätte. Natürlich wird neben Toilettenpapier auch noch so einiges andere für den täglichen Bedarf “eingelagert”. Teile der Bevölkerung rüsten sich also wieder einmal für eine Totalsperre des wirtschaftlichen Lebens, die es ohnehin noch nicht gegeben hat.
Natürlich sind auch die nicht immer logischen, folgerichtigen und noch weniger vorhersagbaren politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens mit ein Grund für Prognose-Unsicherheiten. Niemand kann absehen, welche Maßnahmen den Ministerpräsidenten in ihren Zusammenkünften beim nächsten Mal einfallen, wie viele davon tags darauf aufgrund von rechtlicher Unhaltbarkeit gleich wieder gekippt werden – und welche Auswirkungen das auf die Wirtschaft insgesamt hat.
Zu guter Letzt ist es auch äußerst schwierig, die Auswirkung der allgemeinen Stimmung auf die Wirtschaft und den Konsum in einzelnen Branchen auch nur einigermaßen zutreffend abzuschätzen. Sind die Menschen vorsichtig, panisch, gleichgültig, entnervt – oder kippt die allgemeine Stimmungslage gar in eine ganz andere Richtung? In diesem Fall ist das noch schwieriger, das Verhalten und die Entwicklung der Stimmung vorherzusagen als bei Anlegern – und die agieren meist schon völlig unberechenbar.
Zum Pandemie-Geschehen im Land und in den Nachbarländern sowie bei den deutschen Wirtschaftspartnerländern kommt nun auch noch die Unsicherheit, wie der Brexit ausgehen wird. Als “Deal” oder “No Deal” oder mit bisher noch nicht absehbaren Kompromissen zwischen Großbritannien und der EU? Dazu stellt sich natürlich auch noch die Frage, welche Auswirkungen das eine oder das andere dann für die europäische und die deutsche Wirtschaft haben könnte – auch darüber kann man uneins sein.
All das sieht man auch an den Zahlen. Von pessimistischen Prognosen, die zu den schlimmsten Zeiten von der OECD mit bis zu -8,8 % Rückgang des BIP in Deutschland angegeben wurden, ist man bereits nach zwei relativ gut verlaufenden Monaten (Juli und August) auf moderate 4,7 % bis 5,8 % gelangt. Darüber sind sich die Wirtschaftsforscher auch relativ einig. Mit dem wieder stärker einsetzenden Pandemie-Geschehen im September darf man diese Prognosen aber bereits direkt wieder als überholt betrachten. Insbesondere, wenn man von einem weiteren nötigen “Lockdown” (oder zumindest einer ganzen Reihe von starken Einschränkungen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens) ausgeht.
Die Folgerung: Prognosen sind erstmal nicht zu gebrauchen
Da kaum jemand in seiner Glaskugel sehen kann, wie sich das Infektions-Geschehen weiterentwickeln wird (was ja auch weitgehend davon abhängt, wie sehr die Bevölkerung ihre “gefährlichen” Kontakte dann doch reduziert) und auch niemand der Logik in Politiker-Gehirnen ausreichend folgen kann, bleibt die Grundlage für Prognosen auch nur für kurze Zeiträume in der Zukunft eine reine Glaubensfrage. Genau das gilt für die aus solchen Annahmen resultierenden Prognosen dann natürlich auch.
Man kann in diesem Fall Wirtschaft und Politik keinesfalls als getrennt voneinander betrachten. In Situationen, wie wir sie gerade erleben, hängt das eine gerade sehr stark vom anderen ab. Dazu kommt, dass sich die Politik auch stark darauf fixiert hat, möglichst den “alten” gewohnten Status unserer Wirtschaft zu erhalten und wiederherzustellen, anstatt sich, geboren aus der Krise, für einen neuen Weg und neue Werte einzusetzen. Am Ende erteilt man dann sogar einem Voranschreiten der Telearbeit (Stichwort “Homeoffice”) mit all ihren Vorteilen eine mehr oder weniger klare Absage. Fortschritte müssen bis nach der Krise warten – die Experten versuchen dabei mit ihren Prognosen gerade abzuschätzen, wie viel von unserem “bewährten” Wirtschaftsmodell dann noch übrig und funktionsfähig sein wird.
Die Glaskugeln sind dabei allerdings zum Teil sehr unterschiedlich eingefärbt. Und auch als “informierter Anleger” ist man mit all den weit auseinander liegenden Prognosen wohl genauso uninformiert wie zuvor. In der derzeitigen Lage bleibt wohl für eine noch geraume Zeit nichts anderes, als abzuwarten. Bis dahin sind alle Prognosen reine Glaubensantworten auf nicht berechenbare und unlösbare Fragestellungen.