Der Segen des Vergessens – ist unser Anleger-Gedächtnis zu kurz?

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Der Segen des Vergessens – ist unser Anleger-Gedächtnis zu kurz?

Neurowissenschaftler sagen, unsere Fähigkeit zu vergessen ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, die unser Gehirn überhaupt hat. Ohne diese Fähigkeit wäre es nicht in der Lage, den Alltag zu meistern, es wäre irgendwann hoffnungslos überlastet und würde kapitulieren. Sieht man sich allerdings die Bewegungen der Märkte an, könnte man vermuten, dass gerade Anleger eine herausragend ausgebildete Fähigkeit zu vergessen haben. Während gerade erst dem Bayer-Konzern in der Aktionärsversammlung sogar die Entlastung verweigert wurde und echauffiert sich die ganze Welt gerade über den Fluch von Umweltgiften wie Glyphosat – laufen schon im nächsten Moment dem Riesenkonzern die Anleger buchstäblich hinterher. Vergessen wir vielleicht ein wenig gar zu schnell?

Solide Entscheidungen brauchen eine möglichst breite Datenbasis

Das erscheint schon ganz von selbst einleuchtend. Wenn man sich Statistiken, Vorgänge oder Handlungsweisen ansieht und sie zu beurteilen versucht, sollte man auf einen möglichst ausgedehnten Zeitraum blicken. Nur dann ist eine Bewertung auch solide und tragfähig anstatt nur punktuell.

Bei vielen Anlegern scheint aber gerade das aus der Mode gekommen zu sein. Das langsame, bedächtige Analysieren von Dingen über einen größeren Zeithorizont hinweg. Das Bilden von Schlüssen, die auf einer breiten Datenbasis beruhen und das auch frühere Gegebenheiten, Werte und Entwicklungen mit einschließt.

Wir scheinen vielmehr immer auf den Moment bezogen zu reagieren. Wir lassen zu, dass uns die neuesten Nachrichten vor sich hertreiben. Ja, wir reagieren überhaupt erst, werden erst aufmerksam, wenn mal wieder eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird. Und der Inhalt dieser einzigen Nachricht ist dann plötzlich immer die gesamte verfügbare Information, der Rest wird gnadenlos ignoriert.

Das ist dann genau das Gegenteil von Value Investing. Denn echte Werte sind immer solide, sorgsam abgewogene Werte – es ist vielmehr ein „Impulsive Investing“ – so ein Art ADHS, nur mit Aktien. In der Theorie braucht man niemandem erklären, dass das kein wirklich praktikabler Ansatz ist beim Investieren, das wissen alle selbst. Sieht man dann ein wenig genauer hin, machen trotzdem sehr viele, auch sehr viele Privatanleger, genau das.

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Wenn Sie sich an unsere kleine Serie über die Fallstricke unseres Gehirns beim Investieren, die verschiedenen Biases noch erinnern, werden Sie feststellen, dass dieser Bias dort noch nicht einmal erwähnt wird. Das hat auch einen guten Grund – es gibt ihn offiziell gar nicht. Dieses Handeln ist die komplette Abkehr von jeder Art von rationeller Vorgehensweise, dass man es gar nicht mehr als bloßen „Bias“ einordnen, sondern einfach als einen Totalverlust der denkenden Realität sehen könnte.

Bleiben wir einmal beim eingangs schon erwähnten Beispiel, dem DAX-Konzern Bayer. Die Wogen schlugen hoch, vor allem wegen des Kaufs des Monsanto-Konzerns. Einmal ganz abgesehen davon, dass der Glyphosat-Hersteller sich sicherlich auf moralisch eher bedenklichem Terrain bewegt und man sich überlegen sollte, ob man krebserregende Gifte aus der Sprühanlage auf unserem Gemüse und jede Menge Gentechnik im Gemüse nun wirklich haben will. Wer für teures Geld einen Konzern kauft, bei dem absehbar ist, dass er weltweit riesig in die Kritik geraten wird, dass möglicherweise Milliardenklagen drohen werden und die eigenen Finanzen dann gleich mit in den Abgrund reißen – der betreibt alles andere als eine vernunftbasierte und weitblickend-rationelle Firmenpolitik. Vor allem, wenn der gesamte Konzernwert dann ungefähr so hoch ist wie der für Monsanto bezahlte Kaufpreis.

Genau das kritisierten Anleger und Anlegervertreter auf der Hauptversammlung – und verweigerten damit dem Vorstand die Entlastung, zum ersten Mal in der Geschichte von Aktionärsversammlungen in einem DAX-Konzern. Nun zieht die Aktie wieder steil nach oben – 30 % innerhalb von nur 3 Monaten. Das Vertrauen in den Konzern ist zurück.

Was ist geschehen? Genau: nichts. Weder hat Bayer Monsanto etwa abgestoßen, noch ist Glyphosat plötzlich unschädlich geworden – und auch bei den Prozessen sind keine anderen Urteile zu erwarten, als bisher. Vielleicht wird das Gericht nicht in jedem Fall auch noch das Wort „mit Heimtücke“ in die Urteilsbegründung mit aufnehmen – die Schadenersatzurteile werden allerdings bleiben. 290 Millionen Euro im einen Fall, 2 Milliarden Euro in einem anderen Fall. Der Bayer Konzern hat auch nicht etwa Rücklagen gebildet um die Klageforderungen in Zukunft wirtschaftlich abfedern zu können – das wäre auch von vornherein aussichtslos, denn nach den drei verlorenen Schadenersatzprozessen sieht sich Bayer in den USA noch 13.400 weiteren Klagen gegenüber. Ziemlich hoffnungslos also, dafür Rücklagen bilden zu wollen.

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Es wurde auch nicht etwa der Vorstand ausgetauscht. Der alte bleibt allein in Amt und Würden. Dennoch ist alles vergeben und vergessen. Grund dafür sind allein die Quartalszahlen für das zweite Quartal 2019 (0,9 % Anstieg gegenüber dem Vorjahreszeitraum), der Einstieg eines „aktivistischen Investors“ und ein nicht näher definierter „Strategiewechsel“ des CEOs selbst.

Das reicht, um alles zuvor zu vergessen? Die Firmengeschichte von Monsanto ist eine Geschichte der Schadenersatzklagen. Das begann bereits 1920 mit dem Süßstoff Saccharin, als Monsanto diesen trotz Verbots einfach einsetzte, ging dann weiter mit dem berüchtigten „Agent Orange“, dem Entlaubungsmittel aus dem Vietnamkrieg, das natürlich auch von Monsanto stammt, nicht funktionierenden Herbiziden für Sojabohnen, die einen Ernteverlust von 80 % verursachten, Klagen wegen Patentrechten. Dann kam der PCB-Skandal, bei dem Monsanto mit seiner Produktion über 20.000 Einwohner einer Kleinstadt schädigte, obwohl die Produktion bereits seit Jahrzehnten verboten war und Monsanto nachweislich über die Toxizität bereits seit 1930 (!) Bescheid wusste. Die ganze Klage-Historie ist dann noch gewürzt mit Bestechungsskandalen (140 Regierungsbeamte in Indonesien wurden bestochen, damit sie eine Umweltrisikoabschätzung für eine Baumwollsorte nicht durchführten), gefälschten Büchern und Rechnungen, Klagen wegen gentechnisch veränderten Rapses und brutalen Versuchen, Stillschweigen darüber zu erzwingen sowie Etiketten, die ein Roundup-Herbizid glatt mit der Bezeichnung „biologisch abbaubar“ versehen, was einer wirklichen Verhöhnung der Kennzeichnungspflicht und der Nutzer gleichkommt und schon vor den Glyphosat-Prozessen Klagen wegen Vergiftungen mit Pflanzenschutzmitteln einbrachte. Eine beeindruckende Liste.

Nun stellt sich die Frage: Wer will mit einem solchen, derart wirtschaftenden Konzern überhaupt etwas zu tun haben? Geschweige denn sein Geld dahinein investieren (egal wer nun der Besitzer des Konzerns ist – die Geschäftspraktiken werden sich wohl nicht von heute auf morgen durch einen neuen CEO in lammfromm und heilig verwandeln).

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Wie viel muss man vergessen können, wenn ein Anstieg in den Quartalszahlen und ein kolportierter „Strategiewechsel“ reichen, um alles andere zu ignorieren? Was soll das für ein Strategiewechsel sein? Ehrlich draufschreiben, dass das Zeug Menschen und Tiere langsam umbringt, anstatt sie wie bisher (wie das Gerichtsurteil feststellt) heimtückisch zu vergiften?

Und wie ist es mit der Nachricht von gerade eben, dass unsere Bienen sterben, dass unser Grundwasser von Schädlingsbekämpfungsmitteln durchseucht ist und dass man auf keinen Fall Glyphosat im eigenen Garten anwenden sollte? Alles vergessen? Ehrlich jetzt?

Oder vielleicht: Alles egal?

Wir brauchen wieder grundsolide Werte -wenigstens ein paar

Auch als Kleinanleger stehen wir in der Verantwortung, wem wir unser Geld anvertrauen – und für welche Zwecke. Immerhin fördert unser Geld dann am Ende Dinge, an die wir oft gar nicht denken wollen. Solang aber mehr zurückkommt, scheint uns alles egal zu sein. Wir benutzen die geniale Fähigkeit unseres Gehirns, alles zu vergessen – und werfen halt einfach kritiklos unser Geld dort hinein.

Niemand muss natürlich ausgefeiltes Value-Investing betreiben, Firmen komplett auseinandernehmen und tagelang über einer Analyse von Bilanzen brüten. Einmal ganz abgesehen davon, dass die meisten unter uns das auch fachlich gar nicht könnten. Wir sollten uns aber schon wieder angewöhnen, einen offenen Blick auf das große Ganze zu werfen und unsere Entscheidungen davon leiten zu lassen.

Wir brauchen doch nicht zu investieren wie ein ADHS-krankes, impulsgestörtes Eichhörnchen. Brauchen wir nicht, echt nicht. Wir haben doch Verstand.

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